Bundesinnenminister verbietet "Ökonomie und Gesellschaft"
Der Bundesinnenminister hat der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) vor einiger Zeit ein vorläufiges Vertriebsverbot für den Band "Ökonomie und Gesellschaft" aus der Reihe "Themen und Materialien" (TuM) erteilt. Bei der bpb erscheint dieses Verbot unter dem Begriff "vergriffen". Der Sprecher das Ministeriums charakterisiert den Eingriff als vorübergehende Vertriebsaussetzung (Video).
Damit setzte das Ministerium eins zu eins eine Forderung der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) um. Während die BDA sofort ministerielles Gehör fand, befand das BMI es nicht für nötig, die Autorinnen und Autoren der vom BDA als zu kritisch angeprangerten Artikel zu informieren oder gar anzuhören.
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundeszentrale hat die Entscheidung des Innenministeriums kritisiert und mit überwältigender Mehrheit eine Aufhebung des Vertriebsverbots gefordert.
Von der eigenwilligen Zitiertechnik, mit der der BDA versuchte, seine Forderung zu untermauern, kann man sich anhand des unten herunterzuladenden Textvergleichs ein eigenes Bild machen.
Die BDA beschwerte sich schriftlich unter anderem darüber, dass der Lobbyismus und die Wirtschaftsverbände in dem Themenband zu schlecht dargestellt würden. Die BDA kritisierte unter anderem, dass "ein monströses Gesamtbild von intransparenter und eigennütziger Einflussnahme der Wirtschaft auf Politik und Schule gezeichnet" werde. Es werde "de facto ein durch und durch bestechliches System geschildert, in dem die Wirtschaft ihre Interessen in der Politik mit allen Mitteln, vor allem aber mit Geld, durchsetzt".
Vor einer Reihe von Jahren gab es scharfe Kritik an der wissenschaftlichen, politischen und personellen Einseitigkeit des von der Bundeszentrale für politische Bildung verlegten Sammelbandes "Klassiker der Ökonomie" (Bonn 2006). Herausgeber war Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. Er versammelte mehrheitlich dem konservativ-(neo)liberalen Spektrum zuneigende Ökonomen als Kommentatoren der Klassiker um sich. Zwei der damaligen Kritiken finden sich hier und hier und hier (pdf). Über Kritik von Seiten des Bundesinnenministeriums ist bis heute nichts bekannt.
Hier Hinweise auf Aktivitäten und Berichterstattung zum aktuellen ministeriellen Eingriff: Deutsche Gesellschaft für Soziologie, Ruhrbarone, stern, bento, spiegel online, LobbyControl, Netzpolitik.org, NachDenkSeiten, sueddeutsche.de, Neue Westfälische, Kölner Stadtanzeiger, Bundespressekonferenz, Berliner Zeitung, Spektrum.de , DGB, der Freitag, Der Spiegel,
Inzwischen, so konnten die Herausgeberin und die Autorinnen und Autoren des Bandes aus der Presse entnehmen und auf der Bundespressekonferenz vom 28.10.2015 hören, hat das Innenministerium das Vertriebsverbot aufgehoben - siehe auch Spiegel, Neue Westfälische, . Der Band kann, bald, wieder hier bestellt werden.
Der Ministeriumssprecher betonte, dass es sich bei solchen Überprüfungen um "Ausnahmefälle" handele, dieser Fall aber nicht der einzige sei. Tatsächlich ist aber über andere Eingriffe des Ministeriums in Publikationen der Bundeszentrale für politische Bildung in Form eines Vertriebsverbots aus den vergangenen Jahren nichts bekannt.
Wer sich über Lobbyismus informieren will, der besuche die Bundeszentrale für politische Bildung: Starbucks oder café au lait - Lobbyismus in Washington und Brüssel m Vergleich, Lobbyisten als Politiker - und andersherum, Lobbyismus: Vetternwirtschaft oder Demokratieverstärker?
Reinhold Hedtke