Schwarz-Gelb in NRW: Wählertäuschung beim Schulfach Wirtschaft?
Wahlversprechen schon vor der Regierungsbildung zu brechen, das wäre rekordverdächtig. Bereits zwei Wochen nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen verkündeten Joachim Stamp und Armin Laschet für die koalitionswilligen Parteien FDP und CDU, dass sie an allen weiterführenden Schulen das Unterrichtsfach „Wirtschaft“ einführen wollen. CDU und FDP nahmen das Fach Wirtschaft dann auch in ihren Koalitionsvertrag auf.
In den Landtagswahlprogrammen beider Parteien war jedoch noch keine Rede von einem Fach Wirtschaft, ganz im Gegenteil. Wurden die Wählerinnen und Wähler absichtlich getäuscht? Ein Blick in die Wahlprogramme klärt auf.
1. Gebrochenes Versprechen: Mehr politische Bildung.
Im CDU-Regierungsprogramm [pdf] hieß es: „Wir setzen uns dafür ein, dass in allen Schulformen verstärkt über unseren Staatsaufbau, die Grundwerte und Rechte in unserer Demokratie aufgeklärt wird. Demokratie braucht mündige Bürgerinnen und Bürger, die unsere Grundwerte leben.“ (S. 54) Für das Gymnasium wurde versprochen: „Das Fach Wirtschaft wird im Wahlpflichtbereich gestärkt.“ (S. 68)
Nirgends spricht das CDU-Programm von einem Pflichtfach Wirtschaft für alle Schulformen.
In Koalitionsverhandlungen muss man Kompromisse schließen. Aber das trifft hier nicht zu.
Denn die FDP fordert in ihrem Landtagswahlprogramm [pdf] kein separates Unterrichtsfach Wirtschaft. Vielmehr versprach sie ein Unterrichtsfach „Politik, Wirtschaft, Recht“ in der gesamten Sekundarstufe I (S. 11). Die FDP kündigte die „Ausweitung des bisherigen Fachs Sozialwissenschaften zu einem neuen Fach ‚Politik, Wirtschaft, Recht‘, in dem „die Themen ‚Wirtschaft‘, ‚Selbständigkeit‘ und ‚Unternehmertum‘ „stärker vermittelt werden“ müssen (S. 24).
2. Gebrochenes Versprechen: Ausweitung des Integrationsfachs Sozialwissenschaften
Kurz nach der Wahl will die FDP von ihrem Wahlprogramm nichts mehr wissen. Sie teilt mit, dass nun die Auflösung des Unterrichtsfachs Sozialwissenschaften zugunsten eines Separatfachs Wirtschaft auf ihrer Agenda stehe. Die CDU stimmt zu.
Konsequenter Weise verschwinden auch im Koalitionsvertrag [pdf] die Wahlversprechen von CDU und FDP fast völlig: „Christdemokraten und Freie Demokraten werden daher an allen weiterführenden Schulen das Schulfach Wirtschaft etablieren, in dem unter anderem Kenntnisse unserer Wirtschaftsordnung ebenso wie Aspekte der Verbraucherbildung vermittelt werden.“ (KV S. 11).
Wird das Wahlversprechen mehrfach gebrochen?
Offensichtlich planen CDU und FDP ihre Wahlversprechen also gleich vierfach zu brechen. Ein gebrochenes Wahlversprechen zieht weitere nach sich.
Erstens gibt es keinen Ausbau der politischen Bildung, wie von der CDU angekündigt.
Zweitens verabschiedet man sich entgegen der erklärten Absicht vom bestehenden Fach „Sozialwissenschaften“ und seiner „Ausweitung“ zu „Politik, Wirtschaft, Recht“.
Mit dem Separatfach Wirtschaft führen die Koalitionäre drittens quasi über Nacht ein neues bildungspolitisches Projekt ein, von dem vorher keine Rede war. So erreichen sie das Gegenteil von „Ausweitung“, sie verengen den Unterricht stark auf Wirtschaft, ohne Politik und ohne Recht.
Viertens haben CDU und FDP versprochen, Kinder und Jugendliche zu ermutigen, sich in die Gesellschaft einzubringen, „ihre Anliegen selbstbewusst zu vertreten“, sie „für Teilhabe in der parlamentarischen Demokratie“ zu befähigen und zu begeistern und sie „stärker an der Politik“ zu beteiligen (CDU S. 53, FDP S. 4).
Im Koalitionsvertrag jedoch hinterlassen diese programmatischen Erklärungen kaum Spuren. Für die Bildungspolitik bleiben sie sogar völlig folgenlos.
CDU und FDP betrachten die Schulen offensichtlich als irrelevant für die politische und soziale Partizipation von Kindern und Jugendlichen, sie geben ihnen weder einen Bildungsauftrag, noch zeitliche und personelle Ressourcen.
Irreführen als Wahlkampfstrategie?
CDU und FDP starten ihre Regierungszeit mit der Ankündigung ein Wahlversprechen zu brechen. Das ist keine Kleinigkeit.
Denn die heftigen politischen Auseinandersetzungen um ein Separatfach Wirtschaft in den vergangenen Legislaturperioden zeigen: Wären CDU und FDP ehrlich gewesen und hätten bereits im Wahlkampf ein Schulfach Wirtschaft gefordert, wären andere Fragen gestellt, andere Argumente eingebracht, andere Debatten geführt worden. Das wollten beide Parteien wohl vermeiden.
Im Falle von politischer Ehrlichkeit hätten sich auch andere Verbände, Vereine und Initiativen im Wahlkampf zu Wort gemeldet.
Die Fachöffentlichkeit täuschen?
Vor allem aus der Bildungspraxis selbst hätten Lehrerinnen und Lehrer, Fachleiterinnen und Fachleiter an den Studienseminaren sowie Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer in der Lehrerausbildung ihre Erfahrung und Expertise kritisch in die Diskussionen vor der Landtagswahl eingebracht.
In allen Gruppen ist die große Mehrheit zufrieden mit den sozialwissenschaftlich-integrativen Schulfächern und sehr skeptisch gegenüber einem Separatfach Wirtschaft. Es versteht sich von selbst, dass die Fachöffentlichkeit die einschlägigen Passagen der Wahlprogramme sehr aufmerksam gelesen hat – und sich dann beruhigt anderen Aspekten zugewendet hat.
Man kann also sicher sein: Hätte die FDP ihr politisches Projekt Separatfach Wirtschaft nicht verheimlicht, hätte der eine Wähler oder die andere Wählerin ihre Stimme einer anderen Partei gegeben. Das wollte die FDP offenbar vermeiden.
Sollte eine Debatte im Wahlkampf verhindert werden?
Mit diesen Fakten drängt sich der Eindruck auf, dass die Aussagen in den Wahlprogrammen der Verschleierung der politischen Absichten und der Irreführung von Öffentlichkeit und Wählerschaft dienten.
Denn landauf landab ist bekannt, dass die NRW-FDP in der Vergangenheit eine der Wortführerinnen für ein Separatfach Wirtschaft [pdf] war. Davon hatte sie sich in ihrem Landtagswahlprogramm scheinbar verabschiedet.
Im Rückblick erscheint das als gezielte Desinformation und Wählertäuschung. „Machtmissbrauch“ würde Christian Lindner sagen.
Das Versprechen einer Wählertäuschung
Dass die Koalitionäre das Separatfach Wirtschaft als prominentes Projekt und nicht als politische Petitesse betrachten, belegt ihre Pressepolitik. Schon zu Beginn der Koalitionsverhandlungen, als noch sehr wenig über die Vorhaben der künftigen Regierung bekannt war und lange bevor der gesamte Koalitionsvertrag vorlag, hoben CDU und FDP ihre Entscheidung für ein Schulfach Wirtschaft öffentlich hervor. Die Presse berichtete darüber an prominenter Stelle.
Aber nichts wird so heiß gegessen wie gekocht. Wie die politischen Projekte in den Wahlprogrammen, so ist auch der Koalitionsvertrag ein Papier der Ankündigungen und Absichtserklärungen.
Deshalb handelt es sich beim Separatfach Wirtschaft bisher nur um ein weiteres Versprechen, aus dem eine Wählertäuschung wird, wenn es eingelöst wird. Ob und wie das geschieht, das wird man sehen.
Reinhold Hedtke